Replik-Reihe, Teil 1: Volksabstimmungen

Wildheuer, Schurkenstaat im Herzen Europas, Montag, 28.08.2017, 21:32 (vor 2426 Tagen) @ Oblomow1509 Views

Grüss euch Oblomow, Lechbrucknersepp, nemo, sprit, Zürichsee, gwg, neptun, Zarathustra – und alle am Thema Interessierten.


Mögt ihr mir meine späte Replik etwas vergeben, denn übers Wochenende war die Schweiz in eine Festhütte verwandelt, und das Wetter ist zu verlockend, um vor dem Bildschirm am Internet zu hängen.

Ich versuche (über die nächsten Tage und wohl sogar Wochen verteilt) auf die Aussagen chronologisch von oben (zuerst) nach unten (zuletzt) einzugehen, ohne Garantie auf Vollständigkeit. Erstmal beschreibe und umschreibe ich Vieles, meine innere Haltung und Überzeugung zum Ganzen lässt sich vielleicht da und dort erkennen, aber wenn überhaupt, gehe ich erst ganz am Schluss dieser Replik-Reihe darauf tiefer ein.

Fangen wir jetzt mal einfach an.


Oblomow, du darfst ooch was fragen, natürlich!

Das Schweizer Demokratiemodell spielt auf drei Ebenen: Von unten nach oben auf der Gemeindeebene, dann auf der kantonalen Ebene, schliesslich auf der Bundesebene, d. h. die neue Eidgenossenschaft betreffend. Das schreibe ich bewusst so, weil die Siedlungen, Talschaften, die Handelsorte; die Kantone (also die Stände, die „alten Orte“), und die alte Eidgenossenschaft, gab es ja bereits vor der Gründung des „modernen Staates“ 1848.

Obwohl man den Begriff „Volksabstimmungen“ meist auf Bundesebene verortet, gibt es sie natürlich auf allen drei Ebenen. Ich hole nun etwas aus, damit man ein bisschen ein Gefühl dafür bekommt, wie das Schweizer Modell so funktioniert.

Zur Gemeindeversammlung (der Einwohnergemeinde) sind alle in der politischen Gemeinde ansässigen und stimmberechtigten Schweizer (ab 18) einschliesslich die Eingebürgerten berechtigt. Es gilt das absolute Mehr der gültigen Stimmen der anwesenden Bürger. Ein Zehntel (behafte mich nicht auf dieser Zahl) aller Stimmbürger können dann innerhalb einer Frist (1 Monat) das Referendum gegen jeden Gemeindeversammlungsentscheid ergreifen.

In grossen Gemeinden (Städten) ist nichts mehr mit „direkter Demokratie“, im dortigen Gemeinderat (Stadtrat) entscheiden die Delegierten. Allerdings könnte man eine solche Sitzung von „Ratsherren“, oder „Ratsmännern“ wiederum als einen Thing auffassen...

„Direkte Demokratie“ - bemerkenswerterweise weit jenseits der Dunbar-Zahl! - gibt es noch bei den sog. „Landsgemeinden“ zu bestaunen. Der Kanton Glarus hat sie im gleichen Atemzuge einer krassen Gemeindefusion (von m. W. 28 Gemeinden runter auf nur noch drei) entschieden, notabene – konsequenterweise – in ihrer letzten Landsgemeinde. Aber im Halbkanton Appenzell (welcher?; oder gar in beiden) gibt es sie noch. Gerade in dieser Gegend war bezeichnenderweise der Widerstand gegen das Begehren des Frauenstimmrechts am solidesten. Alte Traditionen gibt es um die Landsgemeinde, so z. B., dass die Teilnehmer jeden erdenklichen Weg abkürzen dürfen, jedes erdenkliche Durchgangsrecht besitzen, um nur rechtzeitig an der Landsgemeinde einzutreffen und ihre Stimme per Handerheben abgeben zu können. Auf dem Nachhauseweg sind solche aussergewöhnlichen Wegrechte allerdings entzogen!

Aber auch eine „Landsgemeinde“ ist vor dem Schillerschen (im Demetrius aufgezeigten) Makel des Mehrheitsbeschlusses an sich und der massenpsychologischen Entstehung von Entscheiden keineswegs, oder erst recht nicht gefeit.

Eine weitere Kuriosität (im Zusammenhang mit den gewöhnlichen Gemeindeversammlungen) ist nicht zu vergessen: Dass oft im Vor- oder Nachgang zur Gemeindeversammlung (der Einwohner) die sog. „Ortsbürger“ tagen. Die Ortsbürger sind in der Regel angestammte Familien, oder jemand, der sich besonders verdient gemacht hat. Die Ortsbürger betreiben und nutzen z. B. das Kieswerk, den Forst, die Autoparkhäuser.

In den typischen Wassergemeinden rund um den Gotthard haben die sog. „Korporationen“ das Zepter in der Hand, z. B. über Fragen wem die Wasserrechte gehören, und wieviel Wasserzins ein Werk abliefern muss.
Und „Alpgenossenschaften“ z. B. walten über die sog. „Bestossungsrechte“ (das Recht, Talschaften und Berghänge mit Kühen zu bestossen, heisst: abzugrasen und die Milch zu verkäsen). Da mit der Verbreitung der Jasskarten manche in anderen Gemeinden gelegene Alp „verjasst“ wurde, kommt es vor, dass die Bauern mit ihrem ganzen Vieh auf eine Alp „z'Alp gehen“, deren Nutzung die Einheimischen dort an „die Auswärtigen“ abgeben mussten.

Wegen der kleineren und ausgewählteren Zahl von Ortsbürgern, Korporationsmitgliedern, Alpgenossenschaftern, usw., könnte man auch hier eine Art von Thing erkennen.

Allerdings fühlen sich die Einwohner schnell einmal „benachteiligt“ und in ihren Demokratie-Rechten etwas „betupft“, wenn sie feststellen müssen, dass die Ortsbürger über die Verwendung von Holzerträgen z. B. entscheiden dürfen, währenddessen sie (die Einwohner) das gelieferte Holz (den Ortsbürgern) als Rohstoff für das örtliche Heizwerk „berappen“ müssen.

So kann es eben vorkommen, dass zwei in Doppeleinfamilienhäusern (DEFH) direkt nebeneinander wohnende Bürger konträr andere Meinungen zu einer Vorlage haben, weil eben der eine seine Interessen in der Ortsbürgerschaft wahrt, und im obigen Beispiel auf diese Weise vom anderen (vom Einwohner) Zinsen zieht.

Eine weitere Spezialität ist die sog. „Heimatgemeinde“. Jede Schweizerin, jeder Schweizer hat ihren ursprünglichen „Heimatort“ in den (bei der Einwohnergemeinde hinterlegten) Schriften, und auch im Pass stehen. Diesen Ort versteht ausserhalb der Schweiz niemand so richtig, weshalb man ihn z. B. in den Visaanträgen am besten einfach im Feld „Geburtsort“ einträgt, was aber eine eigentliche Falschaussage begründet. Denn der „Heimatort“ ist der Ort, wo der Vater (seit der Gleichstellung auch die Mutter) seinen/ihren Heimatort hat. Es ist also etwas Vererbliches sozusagen. Vor hundert Jahren war es einem Verarmten die letzte Zuflucht, denn der Heimatort musste ein Dach, Nahrung und Feuerholz bereithalten für jeden, der diesen Heimatort in den Schriften trug. Diese Verpflichtung führte damals oft dazu, dass Arme kaum in eine neue Gemeinde (in ein neues Leben ziehen) konnten, denn, war eine Familie verarmt oder verschuldet, wurde ihr kurzerhand einfach die Niederlassung in der Gemeinde verweigert. Mit der Einführung der Alters- und Hinterbliebenen-Versicherung (AHV) und des heutigen ausgebauten Sozialwesens hat der Heimatort seine Bedeutung verloren. Viele Schweizer haben ihren Heimatort noch nicht gesehen in ihrem ganzen Leben.

Die Bedeutung der Stimmen auf den drei Ebenen (Gemeinde, Kanton, Bund) kann man etwa so verstehen...:

Auf Gemeindeebene wird typischerweise entschieden über Ein- und Auszonungen von Bauland (ein heisses Eisen wegen möglicher Verbandelungen der geschäftsführenden Gemeinderäte mit örtlichen/regionalen Baulöwen), Trottoirverlängerungen (Bürgersteige und deren teuren Abschlusssteine), Schulhaus-Schliessungen und -Erweiterungen, Sportanlagen, Schwimm- und Hallenbäder-Verbünde, Planungskredite für Verkehrskreisel, Zone-30-Beruhigungen, Defizitbeteiligungen für grosse Feste und Jubiläen, u. dgl.

Auf der Ebene des Kantons (des eidgenössischen Standes) gibt es die „direkte Demokratie“ allenfalls noch in Form von Bürger- oder Gemeinde-Initiativen. M. W. ist ein Referendum nur den Bürgern zugänglich (kann mich auch irren), oder es ist wie der Schweizer oft in Witzen zu sagen pflegt...: „von Kanton zu Kanton“ verschieden.

Den Kantonen gehört das Strassennetz, die Gewässer (somit auch die Fischerei), die Polizeigewalt, Wirtschaftsförderung, das Gesundheits- und Spitalwesen, Bildung/Schulen, usw. Die Kantone dürfen nicht selbständig mit dem Ausland über irgendetwas entscheiden, denn diese Aufgabe ist dem Bund vorbehalten.

Auf Kantonsebene gibt es das Kantonsparlament, somit haben wir zumindest für diesen Aspekt eine „repräsentative Demokratie“.

Eisenbahnen, Nationale Autobahnen, Flugverkehr, Post, Telefonie, und all die Bundesämter, all das ist auf der Ebene des Bundes. So auch das Militär. Auch die ETH Zürich, EPFL Lausanne.

Die SNB, interessanterweise, wird von Privaten und den Kantonen gehalten (ich meine die Aktien), sie gibt und holt Anweisungen aber meist direkt zum/vom Bundesrat, der Exekutive des Bundes.

Der Begriff „Eidgenossenschaft“ lässt durchschimmern und etwas Verschworenes anklingen, dass es sich anfänglich tatsächlich um eine Art „grass root“-Bewegung oder um ein urschweizerisches Widerstandsnest gehandelt haben könnte (welches ja auch nur die Wegzölle am Gotthard für sich einbehalten wollte...), währenddem der Begriff „Bund“(„Bündnis“) u. U. seine Motivation aus der stürmischen Zeit der „Radikalen“ (die heutigen „Liberalen“, „Freisinnig-Demokratischen“) und der Französischen Revolution bezieht. Die ersten sieben Bundesräte 1848 waren m. W. zum grossen Teil (oder ausschliesslich?) „Liberale“, der erste Bundespräsident stammte aus der Industriestadt Winterthur.

Zur Frage der „Volksabstimmungen“ (hier vorerst mal auf Bundesebene): Es kommen alle Themen zum Entscheid, die die Legislative oder die Exekutive verfassungsmässig dem Volk vorlegen müssen (z. B. bei einer Schwere und Wichtigkeit wie es eine Änderung der Verfassung, der EWR-, oder der EU-Beitritt wäre). Aber auch alle Entscheide, die entweder durch eine Volksinitiative oder ein Referendum erzwungen wurden.

Themen, die nicht an Volksabstimmungen behandelt werden, sind wohl solche, die die vorherrschenden Macht- und Gewohnheitsstrukturen erschüttern würden: Es gelten ganz grundsätzlich die folgenden, beiden Volksweisheiten, die an Stammtischen immer in breitester Mundart zum Besten gegeben werden: „Die zBärn obe mache sowieso was sie wey (wollen)“; und „Würden das Initiativ- oder Referendumsrecht wirklich etwas ändern, so wären sie längst abgeschafft worden!“ Also: Das Hinterfragen der Parteienfinanzierung hat es nicht leicht z. B.

Das progressivste Organ in der politischen Landschaft der Schweiz ist interessanterweise der siebenköpfige Bundesrat (manchmal als die „Sieben Zwerge“ verspottet, was natürlich ihre Macht geradezu fahrlässig kaschiert), offenbar ist dies das bevorzugte „Einfallstor“, um moderne gesellschaftliche, politische, oder technologische Strömungen auf das „tumbe Volch“ loszulassen, und Versuchsballone steigen zu lassen. Beispiele dafür sind: Die Hoheit über gesundheitliche Behördenentscheide (diese war zuvor bei den Kantonen) zur WHO hinauf zu delegieren (also aus der Schweiz hinaus an eine abstrakte UNO-Agentur, die Grenzwerte global vorgibt, sagt was krebsfördernd ist, und was nicht, und sogar mögliche Zwangsimpfungen fürs Pflegepersonal „von weit oben herab“ anordnen könnte); oder die sog. „IPCC-Klimaschutzabkommen“; oder die Liberalisierung des Strommarktes, oder die Homoehe, und, und, und...

Zum heiklen Thema, wie genau Legislative, Exekutive, und sogar die Judikative den ursprünglichen Volkswillen „umbiegen“ können, davor oder danach, darauf gehe in einem späteren Teil meiner Replik-Reihe ein.

Für heute lasst mich etwas Pause machen, derweil dürfen natürlich alle weiterargumentieren und -helfen bei unserem Tief(tauch)gang.

Auf bald!
Vom Wildheuer

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Gibt es denn keinen Boden auf dieser absurden Welt? Ich dachte wir wären längst aufgeschlagen. --nereus


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