zwei Literaturhinweise

Weiner, Dienstag, 15.08.2017, 11:18 (vor 2417 Tagen) @ Zarathustra1295 Views

Guten Morgen!

Mit dem Statement von Zara könnte eine interessante Diskussion beginnen, jedoch kann ich mich aus Zeitgründen ihr nicht stellen. Auch habe ich die Befürchtung, dass generell sein anspruchsvolles Thema forumsmässig nicht wirklich angemessen abgehandelt werden kann - mal ganz abgesehen von etwaigen gegenseitigen Animositäten und bereits vertrauten Argumentationswegen auf dem Forum gerade hier.

Ich darf aber ersatzweise, für die Allgemeinheit, zwei m.E. gute Bücher empfehlen, die den Problemkreis "Gemeinschaft und Gesellschaft" differenziert beleuchten. Das erste ist von Nele Schneidereit: Die Dialektik von Gemeinschaft und Gesellschaft, Berlin (Akademie Verlag) 2010. Eine wichtige Kernaussage des Buches: die Dichotomie, die - meist auf Tönnies zurückgeführt - zwischen den beiden Begriffen gesehen wird, entspricht nicht der Wirklichkeit. Man kann Gemeinschaft nicht gegen Gesellschaft ausspielen, beide sind gleichermaßen begriffliche Eckpfeiler für das (normative und deskriptive) Verständnis des Sozialen. Beispielsweise können Gemeinschaften innerhalb von Gesellschaften bestehen (neulich hat ein Forist hier positiv auf die "segmentierte Gesellschaft" hingewiesen), und überdies haben Gemeinschaft wie Gesellschaft beide nur Schnittmengen mit dem so genannten "Staat". Der Staat wiederum ist nicht zwangsläufig ein Macht- bzw. Gewaltsystem, wiewohl die meisten Staaten der letzten 5000 Jahren es (nach innen wie nach außen) gewesen sind. Gewalt herrscht nämlich durchaus auch in Gemeinschaften *), ja bereits in Familien und Clans (beruhend auf einer natürlichen Asymmetrie bzw. statistischen Verteilung menschlicher Charaktereigenschaften. Lebensaufgaben und Befähigungen). Oft schmerzt sie dort sogar am meisten. Ich selbst sehe den Staat neben der Gesellschaft und der Gemeinschaft als eine genuine Organisationsform, die eine Gesellschaft sowie Gemeinschaften transzendieren und eine eigene Qualität haben kann. Wenn die Staatsorganisation überwiegend mit Propaganda, Brot und Peitsche arbeitet, darf man sie gerne in Frage stellen und reformieren - so man, Staatskunst und Staatsvermögen bei seinen Gliedern vorausgesetzt, das auch kann ...

http://d-nb.info/99870346x/04 (Inhaltsverzeichnis Schneidereit)

Vom kleinsten physischen Glied ausgehend analysiert Marina Hennig „Individuen und ihre sozialen Beziehungen“ Wiesbaden (VS Verlag) 2006, wobei sie anstelle des Begriffes Gemeinschaft den moderneren Begriff Netzwerk benutzt, vermutlich weil er ihr übergreifender und neutraler zu sein scheint. Im Laufe eines Lebens können Gemeinschaften ja durchaus gewechselt werden - allerdings nicht zu oft und beliebig. Ich habe im Buch von Hennig eine zunächst private Annahme 'wissenschaftlich' bestätigt gefunden: dass nämlich der Mensch bzw. ein Individuum nur zu einer relativ beschränkten Zahl von anderen Individuen einen existentiellen Bezug herstellen kann. Zwischen empirisch gefundenen 2 und 30 Personen baut sich eine Glockenkurve auf (statistische Materialien auf Basis von Fragebögen), mit einem Maximum bei 12 Bezugspersonen. Hier handelt es sich um eine Tiefenstruktur, die nicht nur im mythologischen Kontext sich bekanntlich niederschlägt, sondern die vielleicht sogar in 'mathematische Urgründe' hinabreicht (Stichwort: Kusszahl). Weit unterhalb der Dunbarzahl gibt es hier also bereits eine "Grenzlinie" bzw. gibt es "diskrete Orbitale" in sozialen Beziehungsgeflechten.

http://d-nb.info/976024152/04 (Inhaltsverzeichnis Hennig)

Was ich gerade als 'existentiellen Bezug' bezeichnet habe, erscheint in den Umfragen der Soziologen als Bereitschaft zur Intimität und zur gegenseitigen Hilfeleistung (Elternschaft hierbei eingeschlossen) sowie als gemeinschaftliches Wohnen und Erleben. In diesem existentiell sozialen Mikrobereich öffnet sich ein Mensch dem anderen Menschen gegenüber unter Umständen sehr weit. Leben in einer Gemeinschaft (etwa im Dunbar-Horizont) setzt keine so weitgehende Selbsteröffnung voraus, eine Gesellschaft bedarf dessen noch weniger. Bei ihr stehen äußere Interessen und (durch den Zeitgeist geprägte) allgemeine, d.h. standardisierte, ggfs. stereotype Verhaltensweisen im Vordergrund.

Von einem Staat ausgeübte Gewalt kann natürlich ebenfalls eine existentielle Herausforderung bzw. ein tiefer Eingriff in eine Existenz darstellen. Sie ist allerdings meist 'anonym' und 'kalt'. Und das ist dann das eigentlich Verwerfliche an ihr: sie nimmt nämlich dem Betroffenen das Menschsein. Und wenn man's genau nimmt, ereignet ich das nicht nur bei den Opfern, sondern auch, unbemerkt, bei den Tätern.

*) Den Übergang von einer gewalttätigen Gemeinschaft in eine gewalttätige Staatsorganisation kann man sehr schön am Leben Mohammeds oder Dschingis Chans studieren.

MfG, Weiner


gesamter Thread:

RSS-Feed dieser Diskussion

Werbung