Erklärung der Physiologie von Funktionsstörung und Training

DerSuchende, Mittwoch, 26.07.2017, 20:14 (vor 2438 Tagen) @ modesto2076 Views

Liebe Herzdame,

dies freut mich, wenn es hilft.

Meine nächste Antwort wird etwas länger ausfallen, um ein paar Missverständnisse in der Anatomie auszuräumen, was "verschobene Wirbel" betrifft. Mir ist wichtig zu betonen, dass es sich hier nur um eine allgemeine Antwort handelt und nicht auf einen spezifischen Fall, wie deinem geht.

Was ist eine Blockade?

Für den Laien ist es, wie im vorherigen Post, eine Beschreibung der Platzierung der Wirbel, die als verschoben angesehen werden. Im anatomischen Sinn ist dies aber nicht korrekt, denn der Wirbel kann sich aufgrund der Verbindungen zum darüber liegenden und darunterliegenden Wirbel über Muskeln, Sehnen und Bänder nicht verschieben. Was er kann, ist eine andere Position in Relation zu den anderen Wirbeln einzunehmen, die er unter physiologischen Bedingungen auch wieder verlassen kann. Normalerweise hat die Wirbelsäule von der Seite aus gesehen die typische "doppel S" Form, die durch die anatomische Form der Wirbelkörper gebildet und durch die Muskulatur aufrecht gehalten wird. Jeder Abschnitt der Wirbelsäule kann sich mehr oder weniger dreidimensional bewegen, womit eine Bewegung in allen Ebenen, wie Beugung und Streckung, Seitneigung und Rotation, möglich ist.

Kommt es nun durch äußere oder innere Einflüsse dazu, dass sich ein bzw. mehrere Wirbel nicht mehr komplett in allen drei Ebenen bewegen können, spricht der Laie von einer Blockade und der Mediziner von einer Funktionsstörung. Da nun der Wirbel in einer Position verharrt, kommt es zur Verkürzung der Muskeln, Sehnen und Bänder auf einer Seite und die andere Seite wird gedehnt. Die Störung betrifft immer das ganze System mit all seinen Strukturen. Nun wird es noch etwas komplizierter, denn das Nervensystem ist selbst auch an der Aufrechterhaltung der Störung beteiligt. Durch die veränderte Position verändert sich ebenfalls die Spannung der Muskulatur und damit auch die Aktivität des Reflexbogens, der für die Tonusregulation der Muskulatur verantwortlich ist.

Der Reflexbogen dient der Adaptation von Muskelspannung. Hierbei gelangt Information von den Kernsack- und Kernkettenfasern in der Muskulatur und Golgisehnenapparat in der Sehne zum Spinalganglion, von dem aus die Information aufsteigend in Richtung Kleinhirn und direkt zu Interneuronen auf Segmenthöhe umgeschaltet wird. Die Interneurone auf Segmenthöhe passen die Spannung der Muskulatur auf die Veränderung der Kernsack-, Kernkettenfasern und dem Goglisehnenapparat in der Muskulatur an. Es kommt damit in jeder Sekunde, die wir leben, zu einer Regulation von Muskelspannung (eine ähnliche Steuerung gibt es auch in der Gelenkkapsel von allen Gelenken am Körper, hierbei dient die Information der Bewegungsabstimmung). Wenn nun eine Funktionsstörung an einem Wirbelkörper auftritt, kommt es, durch die eben beschrieben Physiologie, zu einem veränderten Informationsfluss, der die Regulation der Muskelspannung negativ beeinflusst.

Mit diesem Wissen ist es nun möglich, auf verschiedenste Herangehensweisen, Fehlstellungen der Wirbelsäule zu behandeln.
Einmal ist es möglich über die Behandlung des Gelenks (z. B. Chiropraktik) die Information am Gelenk zu verändern, um sekundär die Spannung in der Muskulatur zu beeinflussen. Eine andere Möglichkeit wäre, die Muskulatur zu behandeln (z. B. DryNeedling, Stosswellentherapie, Muscleenergytechniken, uvm.), damit sich die Spannung reduziert, um sekundär das Gelenk positiv zu beeinflussen. Oder, wieder eine weitere Möglichkeit wäre, über Craniosacraltherapie das vegetative Nervensystem zu beeinflussen, um die Entspannung zu fördern, damit der Muskeltonus im ganzen Körper verändert wird.
Alle diese Optionen können aber nur temporär zu einer Linderung der Beschwerden beitragen, weil sich die Funktionsstörung höchstwahrscheinlich über die Zeit sehr stark im Gewebe manifestiert hat, weshalb sich diese Störungen nach einer gewissen Zeit wieder aufbauen werden.

Nach einer Behandlung sollte nun das erreichte Bewegungsausmaß genutzt werden, um mit Bewegung, bzw. Training definierte Bereiche zu unterstützen einen veränderten Regelkreislauf (Reflexbogenaktivität) neu aufzubauen. Das heißt, das Training soll den veränderten Informationsfluss aufrechterhalten und später zu einer Veränderung im Gewebe führen. Dies führt zur nächsten Frage:

Wie kann sich Körpergewebe verändern?

Wir sind ein Abbild der Belastung, der wir uns jeden Tag aussetzen. Anders ausgedrückt, wenn wir trainieren wird unsere Belastbarkeit größer, als wenn wir nichts tun. Denn beim nichts tun, sinkt sie. Jeden Tag sterben in unserem Körper Zellen in allen Körpergeweben (außer Nervenzellen) und werden im selben Zeitpunkt durch neue ersetzt (Turnover von Körpergewebe). Die alten Zellen haben die Belastung ihres Lebens (ist je nach Körpergewebe unterschiedlich) in sich selbst gespeichert, also z. B. auch Fehlbelastung durch Fehlstellung. Die neuen Zellen sind formbar und können damit über das Training beeinflusst werden, um "fitte" alte Zellen zu werden. Nun haben wir gesehen, dass sich die Zellen durch Training formen lassen. Damit nun der ganze Körper die Veränderung mitmachen kann, gilt die Grundregel, dass gut durchblutetes Körpergewebe (Muskelgewebe) einen schnellen Turnover im Gegensatz zu wenig bis kaum durchblutetem Körpergewebe (Sehne, Bänder, Bandscheiben) hat. Daraus resultiert, dass ein Training regelmäßig und über einen langen Zeitraum durchgeführt werden muss, um überhaupt einen längerfristigen Effekt zu haben.
Allgemein sind diese Effekte wissenschaftlich untersucht und auch belegt. Wie sehr das Training aber wirklich bei einem spezifischen Problem hilft, muss im Rahmen der Therapie abgeklärt werden, denn nicht alle Veränderungen im Körper sind auch reversibel.

Wie finde ich den richtigen "Experten"?

Um nicht in Bewegungslosigkeit zu verfallen, ist es notwendig sich selbst zu informieren und eigenverantwortlich eine Entscheidung zu treffen. Der Experte sollte über das Ziel, mit eventuell verbundenen Risiken aufklären. Damit fällt die eigenverantwortliche Entscheidung für oder gegen eine Therapie viel leichter. Es ist auch möglich mehrere Experten für Teilbereiche zu nutzen, die sich im besten Fall austauschen über Fortschritte oder gegebenen Falls Rückschritte in der Therapie. Allgemein wollte ich noch anmerken, dass Skoliose ein häufiges Krankheitsbild ist. Es sollte also genügend Experten in der näheren Umgebung geben, die wissen, wie man sie behandelt.

Ich hoffe es hilft nicht nur Dir ein deiner Entscheidung, sondern auch noch vielen anderen.

Mit Grüßen ins Forum
DerSuchende

--
Wer suchet, der findet. Dadurch erschaffen wir uns unsere eigene Welt!


gesamter Thread:

RSS-Feed dieser Diskussion

Werbung