OT: Die Komplexität des Menschen beispielhaft anhand der motorischen Entwicklung erklärt

DerSuchende, Samstag, 01.07.2017, 20:53 (vor 2492 Tagen)2753 Views

Was ist Komplexität?

Von einem Ursprung aus, ist es das Ausdifferenzieren, Verschieden werden einzelner Strukturen mit dem Herausbilden einer Hierarchie, damit das System als Ganzes weiter funktionieren kann. Im Anfangsstadium besteht eine Struktur, die für sich selbst autark existiert und funktioniert und im späteren Stadium besteht eine Struktur, die in Abhängigkeit mit anderen Strukturen als Einheit funktioniert, weshalb eine Hierarchie entstehen muss, damit die einzelnen Teile des Systems miteinander funktionieren.
Auf die Embryologie bezogen ist die Eizelle dieser Ursprung aus dem später die einzelnen Körpergewebe des Embryos (Ektoderm: zentrales und peripheres Nervensystem; Mesoderm: Bindegewebe, Knorpel – und Knochengewebe, Muskelgewebe; Endoderm: Zellen der Schleimheute in Lunge, Verdauungstrakt etc.) entstehen. Mit der Ausdifferenzierung in die einzelnen Gewebe entsteht die Hierarchie durch das Nervensystem, welches zum Geburtszeitpunkt soweit entwickelt sein muss, dass das Baby autark sein Leben erhalten kann.
Anhand der motorischen Entwicklung kann eine Weiterentwicklung im Nervensystem erkannt werden, die von dem österreichischen Arzt Heinz Prechtel, Anthropologe und Zoologe beschrieben wurde. Seine Methode beruht auf der Beobachtung kindlicher Bewegungen mittels einer Videokamera. Durch das älter werden des Kindes kommt es zur Weiterentwicklung der kindlichen Motorik bzw. Vervollständigung der einzelnen Schritte in der Entwicklung des Nervensystems.

Welche Stadien in der fetalen bzw. kindlichen Motorik gibt es?

Es sind drei Phasen, die sich in ihrer Betrachtung durch die Art, wie sie vom Kind ausgeführt werden unterscheiden. Die erste Phase, die sich durch unkontrollierte, rotatorische Bewegungen zeigt, die in ihrer Amplitude, Geschwindigkeit, sowie Einnahme vom Raum variabel sind und am Kopf, Rumpf und den Extremitäten auftreten, werden von Prechtel als General Movements (generalisierte Bewegung) bezeichnet. In dieser Zeit treten die primitiven Reflexe, wie die Schreitreaktion, a tonischer Nackenreflex, der Greifreflex, und viele mehr auf. Die ersten generalisierten Bewegungen des Fötus beginnen 7,5 Wochen nach der Befruchtung der Eizelle mit Bewegungen des Kopfes in der Gebärmutter und enden ca. 8 – 12 Wochen nach der Geburt, wenn die nächste Phase beginnt.

Die zweite Phase ist gekennzeichnet durch, weiterhin rotatorische aber nicht mehr ganz unkontrollierte Bewegungen. Das Baby zeigt Bewegungen wie in der ersten Phase, aber es kommt zu einer leichten Feinabstimmung während der Bewegung. Es treten nach Prechtel die sogenannten Fidgety Movements (zappelige Bewegungen) auf, die durch Hand-Handkontakt, Fuss-Fuss-Kontakt, etwas Erreichen (z.B. mit der Hand), Hand-Knie-Kontakt und viele mehr beschrieben werden. Diese Fidgety Movements treten in Kombination mit der Willkürmotorik bzw. Zielmotorik auf, in der Zeit von der 12 – 20 Woche, welche aber vollständig in der dritten Phase von der Willkürmotorik (Zielmotorik) abgelöst wird, die für den Rest unsers Lebens aktiv bleibt.

In der dritten Phase lösen sich die primitiven Reflex auf, die Fidgety Movements verschwinden und die Zielmotorik, Willkürmotorik übernimmt die Steuerung der Bewegung.

Wo ist nun die Komplexität in dieser Abfolge?

Beim gesunden Erwachsenen wird die Willkürmotorik von oben nach unten ausgelöst, im Unterschied zum Fötus, bei dem erst die höhergelegenen Steuerzentren ihre Axone komplett entwickeln müssen, bevor es wie beim Erwachsenen funktionieren kann. Der Erwachsene generiert die Bewegung im prämotorischen Kortex, von dem aus der elektrische Impuls über die Pyramidenbahnen nach unten auf die gegenüberliegende Körperseite geleitet wird, um im Rückenmark die jeweiligen Neurone anzusteuern, die den elektrischen Impuls auf die Muskulatur übertragen.

Auf diesem Weg wird eine «Kopie» von der Bewegung angefertigt und über das Mittelhirn (Basalganglien), die extrapyramidalen Bahnen gesendet, die ebenfalls auf die Neurone im Rückenmark zugreifen. Die Funktion dieser Bahn ist die Modulation, Feinabstimmung, Anpassung der Willkürmotorik.

Hier ist noch anzumerken, dass Entwicklungsgeschichtlich in der Anthropologie sich erst der Hirnstamm mit dem Mittelhirn entwickelt, bevor sich das Grosshirn entwickelte. Dies bedeutet, bevor eine Willkürmotorik vorhanden ist, ist eine Bewegungsanpassung, Adaptation, Feinabstimmung möglich. Wenn, wir uns anschauen, über welches weitere Zentrum die Adaption läuft, ist dies das Kleinhirn. Diese Struktur, verarbeitet die Sensorischen Reize aus der Peripherie und sendet Informationen ihrerseits an das Mittelhirn (Basalganglien). Diese Information wird wiederum genutzt um die Bewegung anzupassen. Dies geschieht alles unbewusst und in Bruchteilen von Sekunden. Um nun auf die Frage zurückzukommen, wo ist der Aufbau der Komplexität mit Differenzierung und Hierarchisierung?

In der ersten Phase der Entwicklung beim Fötus treten Bewegungen spontan, nur durch die Aktivität von Neuronen auf, die im Rückenmark liegen. Das heisst, die Zelle ist spontan aktiv und löst eine Bewegung an der Muskulatur beim Fötus oder beim Baby aus. Diese Ebene wird in der Neurologie der «central pattern generator» genannt. Entwicklungsgeschichtlich ist dies die älteste Struktur, bei der es einfach nur um Generierung von Bewegung, Fortbewegung ging.

In der zweiten Phase wird die Kontrolle an eine höher gelegene Instanz ausgelagert, nämlich dem Hirnstamm mit Kleinhirn. Hier kommt es wie oben beschrieben zu einer Adaptation von Bewegung. Beim Baby geschieht dies im Zeitraum von der 8 – 12 Woche nach der Geburt, weil in diesem Zeitraum die Axone vom Extrapyramidalen System die Neurone im Rückenmark durch Wachstum erreichen. Entwicklungsgeschichtlich sind wir hier irgendwo vor dem Beginn der Altsteinzeit, also vor mehr als 2,4 Millionen Jahren.

In der dritten Phase wird ebenfalls die Kontrolle an eine höhere Ebene ausgegliedert, nämlich dem Grosshirn mit dem prämotorischen Kortex. Dieser übernimmt nun die Kontrolle beim Baby ab dem 5 Monat (20. Woche), womit dann das eigentliche Erlernen von Bewegung beginnt. Nun kann das Kind willentlich seine Extremitäten bewegen, wobei es erst einmal willkürliche Kontrolle erlenen muss. Entwicklungsgeschichtlich befindet sich dies irgendwo am Beginn des Paläolithikums. Psychoanalytisch gesehen ist es die Vervollständigung der 1 Phase der Entwicklung des Ich-Bewusstseins nach Erich Neumann, die Willentliche Beherrschung des Körpers durch den Geist.

An dem Beispiel der Bewegung lässt sich sehr klar die Ausdifferenzierung und Spezialisierung mit deren Hierarchisierung erkennen. Das Baby durchquert im Schnelldurchlauf die Entwicklung vom simplen Organismus bis zum Menschen, für den unsere Vorfahren millionen Jahre gebraucht haben. Würde nun beim Erwachsenen eine Schädigung auf einer dieser Ebenen auftreten, entsteht eine Pathologie, womit das System als Ganzes nicht mehr, oder nur noch zum Teil funktioniert.
Interessant ist, dass unser Nervenzellen am meisten Energie der Zellen im Körper verbrauchen. Damit wir ein so komplexes System herausbilden konnten, hatten wir anscheinend die Möglichkeit genug Nahrung zu konsumieren, denn sonst hätten wir uns nicht so ein energieraubendes Nervensystem erlauben können, weil wir sonst wohl verhungert wären. Wir sind selbst nur die Basis eines hochkomplexen Systems, dass wir selbst hervorgebracht haben und heute selbst kaum noch verstehen, weil es zu viele Instanzen gibt, die mit unserem eigene Leben kaum noch etwas zu tun haben.

Viele Grüsse ins Forum
DerSuchende

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