@Silke: Egalität - Hierarchie - Herrschaft und Big Mac-essende Indianer

Phoenix5, Freitag, 23.06.2017, 22:15 (vor 2493 Tagen)3512 Views
bearbeitet von unbekannt, Freitag, 23.06.2017, 23:13

Antwort auf Silkes Posting hier:

www.dasgelbeforum.net/forum_entry.php?id=437081

Ist vielleicht von allgemeinem Interesse.


Liebe Silke,

Das Halbverstandene und Halberfahrene ist nicht die Vorstufe der
Bildung, sondern ihr Todfeind.

Theodor W. Adorno


Genau!
Und Bildung ist ja
bekanntlich ein Zentralmachtphänomen, unabdingbar zur Aufrechterhaltung
des Machtkreislaufes, der Ordnung, des Potentialraubes von der Masse
und vom Umfeld.

Ja, zumindest vorerst in der Verwaltung eines Staates. Später - in der globalisierten Welt konkurrierender Staaten - um ökonomisch die Oberhand zu behalten. Da aber durch die stetig zunehmende Komplexität (Arbeitsteilung, Spezialisierung, Outsourcing, etc.) im voll ausgereiften Kapitalismus breit gefächerte Bildung durch Wissen in einem eng definierten Korridor ersetzt werden muss (Fachidiotie), bleiben über die Zeitachse hinweg bald die Gebildeten aus, die diese Komplexität verwalten könnten.
Zeig mir einen einzigen Menschen, der heute den Computer bauen könnte, auf dem ich gerade schreibe - selbst wenn ihm die Maschinen zur Fertigung grundsätzlich zur Verfügung stünden. Der also genau weiß, wie jeder einzelne, noch so winzige Teil der Hardware aufgebaut sein muss um eine programmierbare Software auf diesem Niveau hervorzubringen. Und dann zeig mir einen Menschen, der zusätzlich weiß, wie die Maschinen zur Fertigung der Einzelteile eines Computers aufgebaut sein müssen. Diesen Mangel kombiniere man mit einem überschuldeten Staat und einem debitistischen Durchlauf im Rückwärtsgang und man versteht, was Spengler in Der Mensch und die Technik gemeint hat.

Nur mit gebildeten Menschen kann ein Zentralmachtsystem aufrecht erhalten
werden (Machthalter, Erzwingungsstab, Recht und Kultur verbreitende
Elemente).
„Ungebildete“ Menschen sehen die Welt mit ganz anderen Augen und
agieren anders, egal ob nun weitgehend unbeschädigte Kinder, indigene in
segmentären Strukturen oder Idioten.

Ja, allerdings hat der Indigene Tuchfühlung mit seiner Intuition und seinen natürlichen Instinkten, während der Idiot im Kapitalismus als Arbeitsloser zu Hause oder am Fließband in der Fabrik zur Karikatur eines Homo sapiens degeneriert.

Hast du dich mit den von @Ashitaka vorgestellten interessanten
Denkansätzen von z.B.
Uwe
Wesel
und
Christian
Sigrist
und ihren Schülern und Verfechtern schon
auseinandergesetzt?
Deine Meinung dazu interessiert mich.

Kerngedanke:
Nicht die
- Überlagerungstheorie/ Unterwerfungstheorie,
- Theorie des endogenen sozialen Wandels,
- Patriarchaltheorie,
- Patrimonialtheorie/ Aktientheorie,
- Theorie der natürlichen Grenzen,
- sexistische Theorie,
- hydraulische Theorie u.a.
treffen den Kern der Staatenbildung sondern der Prozess der
Entsegmentarisierung,
der unterschiedliche endogene und/oder exogene Ursachen haben kann.


Ich habe mir jetzt nur die 20 Seiten von Uwe Wesel durchgelesen und mir ist nicht ganz klar, was Wesel jetzt revolutionär Anderes sagt, als hier - zumindest teilweise - Forenkonsens ist. Ein Forenkonsens, der übrigens durch Uwe Wesel maßgeblich mitbestimmt wurde, auch wenn sein Name oft untergeht. Er sagt, dass sich Kephalität schon vor der Staatsentstehung herausbildet, was auf viele, sich oft gegenseitig bedingende Ursachen zurückzuführen ist. Die zwei Wichtigsten sind meines Erachtens:


- Kinderreichtum ist nach dem ersten Sündenfall der Sesshaftigkeit plötzlich erwünscht. Man benötigt Kinder als Arbeitskräfte, zur Versorgung der Alten und später zur Übergabe des Erbes vom Patriarchen zum Sohn (Vieh, Saatgut, Nahrungsvorrat und Werkzeug, später bei Landknappheit auch Land) – während Jägerstämme die Tendenz hatten ihren Stamm klein und agil zu halten. Im Neolithikum gab es die erste Bevölkerungsexplosion um das rund 10-fache. Das erfordert neue Organisationsformen.

- Domestizierung von Tieren drängt die Jagd zurück. Sind in Jägerstämmen und egalitären Bauernstämmen ohne Viehhaltung die Männer stets für längere Zeit fort, was die Frauen im Bauernstamm zu „Herren“ über Haus und Feldarbeit macht und so ihre Stellung stärkt, sind sie plötzlich öfter daheim und übernehmen deshalb dort das Zepter. Mit der Erfindung des Pfluges übernehmen sie auch die Feldarbeit und degradieren damit die Frauen zu Objekten und Handelsware (wobei strittig ist, ob die Erfindung des Pfluges nicht erst NACH der Unterwerfung des Stammes erfunden wurde: Die aus Zwang erstandene Kreativität, die den Surplus leichter erwirtschaften soll).


Und ja, damit zerfällt die Egalität der segmentären Gemeinschaft und es bilden sich Hierarchien heraus bzw. gens/lineages, die mächtiger waren als andere – sogar Ansätze von Schuldknechtschaft (ohne Geld!), von denen bereits Oppenheimer schrieb, dabei aber beschwichtigte:

»Indessen hält sich diese Differenzierung, so lange das politische Mittel nicht einwirkt, in sehr bescheidenen Grenzen. Geschick und Tüchtigkeit sind nicht mit Gewißheit erblich, der größte Herdenbestand wird zersplittert, wenn viele Erben in einem Zelte wuchsen, und das Glück ist launisch. Noch in unseren Tagen ist der reichste Mann der schwedischen Lappen in kürzester Zeit so völlig verarmt, daß er von der Regierung unterhalten werden mußte. All diese Gründe wirken dahin, den ursprünglichen Zustand ökonomischer und sozialer Gleichheit immer wieder annähernd herzustellen.«

Es entsteht eine Art „Proto-Kephalität“, d.h. Anführer/Häuptlinge/Patriarchen, denen man nicht tributpflichtig ist und die organisch gewachsen sind, d.h. ihre Gewalt begründet sich auf Gewohnheitsrecht. Die Kephalität ist, wie Wesel schreibt, von unten nach oben gewachsen und nicht umgekehrt, wie das bei unterworfenen Stämmen der Fall ist. Und diese Abfolge muss auch so sein, weil sich erst aus patriarchalischen Bauernstämmen mit domestiziertem Vieh, Hirtenstämme entwickeln, die schließlich ihrerseits Bauernstämme unterwerfen und so die Staatsentstehung initiieren.

Wesel geht – soweit ich von ihm gelesen habe – mit dieser Abfolge konform und auch im von dir verlinkten Text kann ich keinen Widerspruch entdecken. Sogar Wikipedia sagt, dass Wesel die Unterwerfungstheorie für die am besten belegte Theorie hält.

Ganz klar ist mir allerdings nicht, was uns Wesel in dem von dir verlinkten Text gegen Ende mit dem Stamm der Aschanti in Westafrika sagen will. Ein patriarchaler Stamm, der trotz fehlender Geldwirtschaft mit Gold und Sklaven handelt, ist eben, wie der Wikipedia-Artikel schon erzählt, von staatlichen Gesellschaften pervertiert worden. Schlüsse kann man daraus keine ziehen. Es sei denn, man will vom BigMac-essenden Indianer Nordamerikas irgendwelche Rückschlüsse auf deren ursprüngliche Organisation ziehen.

Wäre das stimmig, sollte das Ziel einer Veränderung der Welt in der
systematischen Schwächung des Zentralmachtsystems durch
Leistungsverweigerung
im Machtkreislauf, Legitimationsverweigerung der Zentralinstanz und
Schaffung stabiler starker mittlerer Segmente - einer starken
segmentären
Opposition
bestehen.

Das stelle ich mir in der Praxis schwierig vor. Der von dir verlinkte Stefan Blankertz ist für mich übrigens ein Phänomen (ich habe sein „Libertäres Manifest“ vor langem mal gelesen). Der Mann folgt sowohl der hier dargestellten Abfolge, zitiert Oppenheimer, geht sogar bis zu einem gewissen Punkt mit dottores Machttheorie (zumindest was Tribut/Surplus betrifft) konform und will, seit er Bücher schreibt, den letzten winzigen, aber entscheidenden Schritt nicht gehen (nämlich: Ohne Staat kein Eigentum, kein Geld, kein Kapitalismus). Danach folgen völlig absurde „anarchokapitalistische“ Utopien, die sich durch nichts von den kommunistischen Hirnwixereien unterscheiden. Er weiß gar nicht, dass seine Position nur wenige Millimeter vom linken Kommunen-Anarchisten entfernt ist, wenn er sich nur ein bisschen intensiver mit dem Eigentums- und Geldbegriff befassen und sich vor allem fragen würde, warum seine Utopien keine reale Entsprechung in der Menschheitsgeschichte haben.

Man sieht im Forum sehr schön, was passiert, wenn die kontrollierende
Instanz (Elli) mit anderweitigen, schwerwiegenden Problemen

beschäftigt

ist. Wir haben hier keinen kulturellen Konsens, denn wir sind alle
Freidenker und Zivilisten.


Das kann man nicht vergleichen. Das Forum ist keine feste Gemeinschaft
oder Gesellschaft sondern eine Plattform und @Elli ist nun nicht gerade
die kontrollsüchtige, gewalttätige Zentralinstanz sondern wenn überhaupt
eher eine Art machtloser Friedensrichter der mit seiner gutmütigen Art
meistens nach Konsens und Ausgleich trachtet.

Ohne Zentralmacht geht es weder hier, noch
anderswo.


Da beweisen aber genügend indigene Gruppen weltweit (z.B. Nuer, Kung!
u.a.)
und historische Beispiele (z.B.teils altes Europa,teils Nordamerika oder
laut Wesel die
jüdischen
Stämme vor der Monarchie
) und vielleicht auch Neandertaler und
Göbekli-Tepe-Erbauer das

Gegenteil
.

Bitte lies meinen Beitrag noch einmal – wir reden aneinander vorbei. In der Kulturstufe des Patriarchats gibt es einen kulturellen Bildungskonsens (oder sagen wir besser: Ein Spektrum an Meinungen innerhalb gewachsener Grenzen) unter den Gebildeten. In der Zivilisationsstufe gibt es diesen Konsens nicht mehr – ebenso wie die kulturelle Seele zu Individuen atomisiert, so tut das auch die Bildung, wenn der Staat kraft seines Gewaltmonopols im Gegenzug keine Einheitslinie oder einen simulierten Konsens vorgibt. Gäbe es hier keinen Moderator, der das Spektrum des Diskutierbaren vorgibt, würde man in diesem Forum innerhalb eines Jahres über Nazis am Mond und Reptiloide vom Aldebaran diskutieren.

Und für Stämme gilt diese Abfolge von unbewusst Gewachsenem zu bewusst Gelehrtem noch viel mehr, weshalb ich dem Titel deines Postings "Segmentäre Gesellschaften verhindern durch Widerstand BEWUSST die Entstehung von Herrschaft" widersprechen muss. Ich würde hier 4 Phasen unterscheiden:


1. Der paläolithische Stamm: Er lebt instinktiv/unbewusst/animalisch. Er hat keinen Wertekatalog und kein Recht, weil er die systemische Gruppendynamik nie hinterfragt. Sie IST einfach.

2. Der frühneolithische Stamm: Er hat das Gewohnheitsrecht (Tabus, Ritus, Kosmogonie), das aber organisch gewachsen und deshalb kaum/wenig reflektiert oder hinterfragt wird. Der Stamm hat keine Vorschriften, die ihm aufzeigen, wie er sich gegen Herrschaft wehren soll.

3. Der spätneolithische Stamm bis Heute: Ihm wird das Gewohnheitsrecht DURCH VERGLEICH mit der ihn bedrohenden staatlichen Kultur/Zivilisation bewusst, weshalb er sich zu wehren versucht. In dem Moment, in dem ihm ein vormals unhinterfragtes, dynamisch gewachsenes System bewusst wird, hat er bereits verloren, denn jetzt beginnt er zu ideologisieren, um seine Gewohnheiten behalten zu können. Und damit zerstört er das unbewusste Fundament, auf dem das System überhaupt erst so lange gedeihen konnte. Nehmen wir das Beispiel der Irokesen, von denen Wesel in „Der Mythos des Matriarchats“ schreibt:

»Mit der Umsiedelung in die Reservate ändert sich im Grunde äußerlich nicht viel. […] Die Männer gingen auch auf die Jagd, allerdings nicht mehr so weit wie früher. Ihr Gebiet war sehr viel kleiner geworden. Die Männer waren nicht mehr ständig unterwegs, in einem riesigen Gebiet, legten nicht mehr Tausende von Kilometern zurück. […] Sie waren nun immer im Dorf. Wie die Frauen. Das war alles. Aber es genügte. Es veränderte die gesamte Situation. Die Frauen waren nun nicht mehr allein mit der Landwirtschaft beschäftigt. Auch die Männer bestellten die Felder. Damit verschwanden die weiblichen Arbeitskollektive. Mit der ständigen Anwesenheit der Männer änderte sich auch das Familienleben. […] Früher bestand die Gesellschaft aus sesshaften Frauen und nomadisierenden Männern. Jetzt, mit der Sesshaftigkeit der Männer, verstärkte sich das Interesse an der Ehe, an ›ihren‹ Frauen. Verstärkte sich das Besitzdenken. Die Ehen wurden fester. Für die Frauen bedeutet es, dass die alte Mutter-Tochter-Bindung abgelöst und ersetzt wurde durch die Mann-Frau-Bindung.«

Seither lehren die Irokesen ihren Kindern die Verbundenheit zum Stamm und wie wichtig es ist, unabhängig zu bleiben und sich keinen Autoritäten zu unterwerfen. Und dazu schrieb ich:

„Einem Kind all dies lehren zu müssen, bedeutet, dass es nicht mehr verinnerlichte, unbewusste und nicht zu hinterfragende Selbstverständlichkeit ist. Hier kommt bereits eine Art von bewusster Stammesphilosophie zum Vorschein, eine Art Stammesmoral und damit eine erste Form der Ideologie, welche die patriarchalische Morgendämmerung abzuwehren versucht.“

Dieses neue Bewusstsein zerstört das, was einen Stamm überhaupt erst ausmacht: Das nicht hinterfragte „So-sein“ gewachsener Strukturen.

4. Auf dieser Phase steht dann der goldhortende Aschanti und Big Mac-fressende Indianer.

Beste Grüße
Phoenix5


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