Vielleicht in der Theorie, die Praxis sah aber ganz anders aus

CalBaer, Montag, 19.06.2017, 00:39 (vor 2475 Tagen) @ Literaturhinweis3900 Views

... als geborener und gelernter DDR-Buerger. Das brennt sich eben ein.

Leider hab ich die Sprueche von damals nicht mehr so woertlich in Erinnerung - ist ja schon fast 30 Jahre her - und nicht extra ergoogelt. Deine Recherche macht aber Null Unterschied.

So, wie man solche Flüchtlinge immer aufhält: bitte, keine Einwanderung in Sozialsysteme! Wenn etwas Konsens in diesem Forum ist, dann dies?!?!? Ich staune ...

Du staunst, weil Du mir unverstaendlicherweise den verfassungsmaessigen Unterschied nicht zu kennen scheinst oder bewusst ignorierst. Ostdeutsche waren eben Deutsche nach Gesetz und sie als Deutsche Staatsbuerger das Recht hatten sich ueberall in Deutschland niederzulassen, also keine Auslaender, die Asylstatus beantragen und dafuer Gruende haben muessen. Zumal von der maximalen Zahl begrenzt und kalkulierbar und nach einigen Wochen von selbst voll integriert.

Im Gegenteil: da gab es enorm viele Kleinhandwerker und andere Unternehmer im Agrarsektor, die schon zu DDR-Zeiten rund um die Uhr dafür sorgten, daß die Wirtschaft nicht an völliger Mangelversorgung zusammenbrach.

Wer in der DDR wirklich gelebt hat, weiss, dass der Privatsektor bis auf Baecker oder Friseure voellig vernachlaessigbar war. Die meisten Handwerksbetriebe wurden zu PGHs (Genossenschaften) "umgewandelt", die staatliche Planziele zu erfuellen hatten. Die letzten Privatbetriebe wurden in den 1970ern verstaatlicht, selbst wenn es sich um eine harmlose Senffabrik handelte. Fast alle Produkte kamen von einem VEB, sehr selten von einer Genossenschaft. Private Produkte waren absolute Ausnahmen, wie z.B. geschnitzte Raeuchermaenchen von den ganz kleinen Manufakturen aus dem Erzgebirge, die selbst fuer die Verstaatlichung zu klein waren. Produktion und Bauleistungen wurden fast alle von Staatsbetrieben oder Genossenschaften erbracht. Selbst die Restaurants waren fast alle in HO- und Konsum-Hand. Private Handwerker waren so rar, dass sie Maerchenpreise fordern konnten - als Kind eines Datschenbesitzers koennte ich von diversen Geschichten noch heute Buecher fuellen. "Enorm viele Kleinhandwerker" kann es also nie gegeben haben.

Die wußten alle, daß sie mit ihren gewachsenen Fähigkeiten dort wesentlich besser aufgehoben waren, als daß sie im "Westen" mit hochgerüsteten Handwerks- und Agrabetrieben hätten konkurrieren können (und wollen).

Die Ausbildung in der DDR war sehr solide und ein Handwerker konnte sich im Westen sehr schnell einarbeiten. Alle Freunde von mir, die in den Westen gegangen waren, bekamen schnell einen Job im selben Beruf und was ihnen fehlte, haben sie schnell innerhalb von wenigen Monaten dazugelernt. Ein Handwerker oder Facharbeiter hat im Osten ca. 1000 Mark verdient, im Westen ca. 3000 DM, wobei das nach Wechselkurs viel mehr betrug. Dieser stark Unterschied haette nicht mal private Handwerker in der DDR gehalten, was sie gehalten hat, war Rechtssicherheit und Optimismus durch die schnelle Deutsche Einheit (denn ihre Kunden kamen in Kuerze mit D-Mark).

Und: die im Westen gescheiterten, die noch kurz vor Grenzöffnung geflohen waren, machten in der DDR bereits die Runde!

Ja, und zwar in der DDR-Propaganda. Die DDR hatte naemlich auch bevorzugt Kriminelle und sog. Asoziale abgeschoben, damit man dem Westen schaden und sie dann vielleicht als Gescheiterte praesentieren kann. Sicher gab es auch normale Gescheiterte, aber das waren seltene Einzelfaelle.

Genau - und was hat Kohl gemacht - sofort die Ostarbeiter und -rentner schlechter bezahlt, als die im Westen, so daß eine Landflucht einsetzte.

Nein, die Ostarbeiter und -rentner bekamen durch Kohl wesentlich mehr, sie wurden nicht schlechter bezahlt. Es war natuerlich weniger als im Westen, aber nicht zu vergleichen mit den Loehnen und Renten in Ostmark (Umtauschkurs 1 zu 6).

weil man als von der DDR kostenlos hervorragend ausgebildeter Arzt im Westen den roten Teppich ausgelegt bekam und weil Ingenieure und Handwerker ebenfalls gefragt waren.

Das waere in einer "Foederation" nicht anders gewesen, denn ein eigenstaendiger Osten haette auf Grund der dortigen Arbeitsproduktivitaet nie vergleichbar attraktive Loehne zahlen koennen. Ein Grossteil waere also in den Westen gewandert. Das hat man eben mit der Einfuehrung der D-Mark und der Angleichung als auch Anpassung (in der DDR verdiente eine Dipl-Ing teilweise weniger als ein Arbeiter) der Loehne, wenn auch langsam, durch die "uebereilte" Einheit verhindert.

Mit einer frei gewählten Volkskammer fiel das Problem ja erstmals in vierzig Jahren weg!

Genau diese frei gewaehlte Volkskammer war nur eine Volkskammer der schnellen Einheit. Im Maerz 1990 wussten wir noch am Wahlabend, dass wir in ein paar Monaten die D-Mark in der Hand halten wuerden. Haette die CDU nicht haushoch gewonnen, sondern die SED, waere es zu einer neuen Massenflucht gekommen - freie Wahlen hin oder her.

Oder wären, wenn Ulbricht nicht gekommen und zwangskollektiviert hätte, auch alle DDR-Bürger 1950, 1951, 1952 ... 1961 in den Westen "geflohen"?

Die wirtschaftlichen Unterschiede hervorgerufen durch das Deutsche Wirtschaftswunder und die erheblichen Lasten der DDR-Wirtschaft (Reparationsleisten and die Sowjetunion), haben zu einem erheblichen wirtschaftlichen Rueckfall im Vergleich zum Westen gefuehrt. Diesen sich vergroessernden Rueckstand konnte 1989 jeder Ossi mit eigenen Augen begutachten und der waere nicht durch freie Wahlen und guten Willen so einfach verschwunden. Selbst die Milliardentransfers aus dem Westen haben ueber 10 Jahre gebraucht um die Lage einigermassen anzugleichen, aber sie haette wohl mindestens 50 Jahre durch einen eigenstaendigen ostendeutschen Bundesstaat, selbst wenn er durch freie Wahlen so zustande gekommen waere, gebraucht. Es ist ein Illusion zu glauben, dass das nur 3 Jahre gutgegangen waere, die meisten waeren schnell weggewesen.

Ein einfaches Gedankenexperiment widerlegt diese These der Kohl-Jubelperser.

Nein, es widerlegt sie nicht, zumal es keine These der Kohl-Jubelperser ist sondern allgemeines Geschichtswissen.

In der Schweiz funktioniert sie. Auch die Franzosen sind seit der Grenzöffnung nicht massenhaft nach Deutschland geflohen? Wie kommt's?

Nun, das liegt doch so klar auf der Hand. Erstens waren Ostdeutsche Deutsche mit gleichen Rechten wie Westdeutsche. Zweitens war es ein Volk mit gleicher Sprache und Kultur. Drittens waren die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen Frankreich und Deutschland minimal, zwischen den Schweizer Kantonen waren sie vermutlich schon immer voellig vernachlaessigbar. Ich bin selbst kurz nach dem Mauerfall nach Frankreich gereist (ins "arme" Elsass) und war schockiert ueber den hohen Wohlstand dort. Kein Vergleich mit der DDR, Du hast es eben nie richtig erlebt.

Nein. Das ist immer so in der Politik, daß Eilbedürftigkeit konstruiert wird, um undemokratische Systemänderungen durchzuboxen.

Keineswegs undemokratisch, die Deutsche Einheit war naemlich schon sehr lange vor dem Mauerfall durch den Bundestag demokratisch legitimiert. Die Bundesbuerger haetten damals einfach andere Parteien in den Bundestag waehlen muessen, wenn sie das nicht so gewollt haetten. Und undemokratisch war es im Osten keineswegs, worauf Du selbst hingewiesen hast. Und die Eilbeduerftigkeit hatte sehr rationale Gruende, wie bereits erlaeutert.

Im Gegenteil: wie schon bei dem zwangs-zerrissenen Jugoslawien hätte ein Ostblock, der sich geordnet aufgelöst hätte, den Stalinisten die Minderheitenrolle zugewiesen, die sie heute (noch) haben.

Aber nicht ueber Nacht. Fuer eine Miltaerputsch hatte es 1991 allemal noch gereicht, wie wir wissen, und der haette auch anders ausgehen koennen. Haette Kohl seine Versprechen nicht eingehalten und nicht Milliarden in der DDR gepumpt, waere es ein Steilvorlage fuer die Stalinisten gewesen. Die naechsten freien Volkskammerwahlen haetten wieder ganz schnell anders ausfallen koennen.

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