Functional illiteracy - 'Analphabetismus in der Praxis' und die Legasthenie-Welle - zwei Seiten einer Medaille

Literaturhinweis, Freitag, 24.03.2017, 14:15 (vor 2561 Tagen) @ Sorrento4662 Views
bearbeitet von unbekannt, Freitag, 24.03.2017, 14:29

Da ich das Thema schon öfter behandelt habe:

Und wenn ein National Institute for Literacy die Aufgabe hat, Functional illiteracy zu bekämpfen und die Mitarbeiter davon leben, ...

Der 'funktionelle Analphabetismus' ist natürlich wieder so ein miß-übersetztes Wort aus dem 'Englischen' wie der Begriff 'evidenzbasierte Medizin'. - Dem Deutschen erschließt sich der Sinn nicht, weshalb er -wie bei 'Qualitätskontrolle' (quality control, control = Steuerung/Beherrschung, vgl. pest control)- dann emsig in die falsche Richtung marschiert und Flurschaden anrichtet.

Dieser Analphabetismus ist keiner, d.h. diese Menschen können im Prinzip lesen, aber es bereitet 'unsägliche' Mühe und sie verstehen daher im zweiten Schritt nichts. Dieses frustriert und führt dazu, die Finger vom Lesematerial zu lassen, und das immer wieder, so, wie im Flohzirkus, wo der Floh es irgendwann sein läßt, zu springen, weil er sich jedesmal den 'Kopf' an der unsichtbaren Glasplatte andonnert.

Seit vor ca. 50 Jahren die Legasthenie in den Fokus pädagogischer 'Bemühungen' rückte, hat sich hier eine unheilvolle Heirat angebahnt, die es erlaubt, das Versagen des Schulsystems einer organisch oder 'irgendwie sonst' bedingten 'Erkrankung' anzulasten und daher keine weiteren Gedanken mehr darauf zu verschwenden, was die wahren Ursachen sein könnten. Statt dessen drückt man sich.

Davor (die Erforschung alexischer oder dyslexischer Phänomene begann schon Mitte des 19. Jahrhunderts) war das Phänomen vor allem von Menschen im fortgeschrittenen Lebensalter bekannt, die aufgrund Hirnschädigung statt einer Aphasie (Sprachschwund) oder zusätzlich zu einer Aphasie, auch eine "Alexie", wie man es fallweise nannte, entwickelten. Auch der Begriff der "Wortblindheit" wurde verwendet und es gibt ihn für nachträgliche Schädigung des für die Worterkennung zuständigen Hirnareals bis heute.

Woher könnte man wissen, daß es dennoch früher in den 'zivilisierten' Staaten kaum echte (erworbene) Legasthenie gab? Nun, ab vielleicht Mitte des 19. Jahrhunderts gab es in USA, Kanada, Deutschland und den meisten europäischen Staaten öffentliche Schulen. Es gab eine allgemeine Bildungspflicht, d.h. die Kinder mußten eine Mindestschulung durchlaufen, ob zuhause, z.B. mit Hauslehrer, oder in einer öffentlichen oder privaten Schule/Internat.

Gleichzeitig war es noch flächendeckend üblich, in den Gottesdienst, die Sonntagsschule, den Konfirmations- oder Firmungsunterricht u.v.a.m. zu gehen. Krippenspiele wurden einstudiert, im lutherischen Konfirmationsunterricht wurde seitenweise der kleine Katechismus gepaukt und auswendig gelernt, anläßlich Firmung und Kommunion war es in den katholischen Gemeinden nicht anders. (Heute wird in der Konfirmationsfeier nicht etwa das dritte Gebot samt Auslegung abgefragt, man ist froh, überhaupt noch Konfirmanden [Konformanden] zu finden. Wahrscheinlich werden bald mehr Flüchtlinge konfirmiert, als solche, die schon etwas länger hier sind.)

Anspruchsvolle Gedichte wurden in der Schule durchgenommen und mußten aufgesagt werden. Das alles ging nur, wenn man nicht "funktioneller" Alphabet war, auch nicht in der damals achtjährigen Volks- und Hauptschule. Ein Mindestmaß an Alphabetisierung gab es. Jeder Bauarbeiter zog morgens seine Bild-Zeitung oder den Kölner Expreß aus den damals offen herumstehenden Kästen, und warf brav seinen Zehner hinein (oder später drei), ohne daß das kontrolliert worden wäre (vgl. die Geschichte vom Geldbriefträger). Unterschreiben konnten die selbstverständlich alle. In der Sowjetunion waren alle der 90% Analphabeten, die Lenin vom Zarenreich übernahm, binnen Jahren alphabetisiert, selbst Erwachsene, so daß unter Stalin bis auf abgelegene Gebiete kaum einer noch Analphabet war. Dieselbe Entwicklung in China schon unter der Kuomintang und später nach der Machtergreifung der kommunistischen Partei - wer nicht umgebracht wurde oder verhungerte, konnte bald lesen und schreiben!

Wenn das damals funktionierte, müßte das alles heute auch noch funktionieren. Es liegt ausschließlich an den 'modernen' Leselernmethoden kombiniert mit dem Aufkommen der audiovisuellen Medien. Just, als, siehe oben, vor fünfzig Jahren die Diagnose Legasthenie auch im schulischen Bereich Einzug zu halten begann, hatte auch die flächendeckende Ausbreitung des Fernsehens begonnen.

Aber immerhin gab es noch die Micky-Maus- und andere Comics, deren Protagonisten in den Sprechblasen in vollständigen Sätzen redeten!

In Deutschland ist es das Verdienst des (damaligen) EHAPA-Verlages, daß er die promovierte Germanistin Erika Fuchs mit der Übertragung der frühen Mickey-Mouse-Dialoge ins Deutsche beauftragte, und daß sie das bis zu ihrem 75. Lebensjahr durchhielt. Damals war Fernsehen auf wenige Stunden am Tage beschränkt und die Kinder standen Schlange vor'm Kiosk, wenn das neueste Comic-Heft 'rauskam und trugen ihr geringes Taschengeld dorthin, statt es in Burger und Süßigkeiten zu 'investieren'.

Karl May war en vogue und wurde verschlungen. Auch Landser-Romane oder irgendwelcher Kitsch war noch von einer durchaus gehobenen Sprache und, dank Lektorat und Handsatz, von fast hundertprozentiger Orthographie beseelt. Wer das in seinen Kinder- und Jugendjahren über ein Jahrzehnt regelmäßig verschlang, der hatte jedes geläufige, auch komplizierte, auch Fremd-, Wort mindestens hundert mal gesehen und sein Hirn hatte es verinnerlicht.

Natürlich erkennt man das zweifelsfrei wieder, wenn es einem in einem Schriftstück begegnet; man hört es auch zweifelsfrei, in den meisten Fällen. Was anderes ist es, wenn man als Kind das Wort "Recherchen" liest und niemals hört - aber auch das legt sich nach dem ersten Hören im Zusammenhang eines ganzen Satzes.

Lediglich eine gewisse Schreibfaulheit mochte zu ungelenken Schriftzügen führen, aber eine regelrechte Wortverstümmelung wurde eher selten beobachtet. Heute dagegen brüsten sich Promovenden an Universitäten, daß sie halt, "leider, leider, Legastheniker" seien. So, als könnte man heute zu 20% der Bevölkerung auch keine Treppen steigen (obwohl, das kommt auch noch, spätestens mit dem autonomen Fahren).

Schon Sprechen ist eine Kulturleistung. Woher weiß man das? Weil man in jedem Landstrich anders spricht. (Laufen dagegen ist eine Naturleistung - das machen die Ureinwohner Australiens, wenn auch vielleicht ausdauernder, genauso wie Schwarzenegger oder Einstein.) Da Sprechen lernen einen komplexeren neurologischen Vorgang bedeutet, als Lesen- und daraufhin Schreiben-lernen, ist auch neurologisch-funktionell nicht einzusehen, wo die plötzliche "Neigung" zur Lese-Rechtschreibschwäche herkommen sollte.

Und in der Tat - noch etwas hat sich zufällig zeitgleich in diesen letzten fünfzig Jahren geändert - in manchen Weltgegenden wurden die Leselernmethoden (aus Gründen, die schwer nachvollziehbar, und vor allem wohl politischen Ursprungs sind) 'ohne Not' geändert.

In Deutschland mit seinen Bundesländern mit Kultushoheit ist das Bild etwas verworrener, daher sollen Zitate aus einer Arbeit von Marie Carbo aus den USA (um die ging es ja) den Abschluß bilden:

Maria Carbo: "Debunking the Great Phonics Myth", Quelle: The Phi Delta Kappan, Vol. 70, No. 3 (Nov., 1988), pp. 226-240, Published by: Phi Delta Kappa International, Stable URL: http://www.jstor.org/stable/20403857

Sie führt aus, daß trotz steter staatlicher Bemühungen in den USA, vgl.

"'Becoming a Nation of Readers, What Works', and a 1988 bulletin from the U.S. Department of Education (ED), titled 'What We Know About Phonics'."

"Currently [1988], the U.S. ranks a dismal 49th in literacy out of 159 members of the United Nations. The country that ranks first, New Zealand, teaches reading through the whole-language approach, which integrates literature, story writing, and the arts - and also incorporates some phonics, when needed."

Also, obwohl die USA sich eine Vorreiterrolle hinsichtlich 'verbesserter Leselernmethoden' zubilligten (wo billigen sich die USA mal nicht zu, "der Käs'" zu sein?), waren sie auf den Stand eines Drittweltlandes abgesackt.

(Die im Zitat für NZ erwähnte 'Ganzheitsmethode' ist übrigens nicht dasselbe, was ich hier als Ganzheitsmethode kritisiert habe. So, wie generell didaktische Methoden oft unter verschiedensten Namen für dasselbe und unter derselben Bezeichnung für verschiedenes daherkommen - das wäre eine Diskussion ganz für sich.)

Carbo weist nach, daß die meisten kolportierten Glaubenssätze in USA auf einem Standardwerk von Jeanne Chall, mehrfach neuaufgelegt, "Learning to Read: The Great Debate" beruhen, obwohl selbst Chall zugibt, daß die meisten Studien zu z.B. Phonics methodisch unzulänglich sind.

Mit andern Worten: auch wenn des US-Schulwesens Wohl und Wehe zu einem großen Teil von der unterschiedlichen finanziellen Ausstattung der School Districts abhängt (daran dürfte auch das mittlerweile verarmte Detroit eben kranken) - die US-weiten Probleme sind hausgemacht dadurch, daß seit den sechziger Jahren die Lehrer gezwungen wurden, eine -aus meiner Sicht von Anfang an wissenschaftlich widerlegte- 'Leselern'-Methode anzuwenden und keiner, trotz sich stetig verschlechternder Lese- und Rechtschreibfähigkeiten im US-Durchschnitt, getraut zu haben scheint, dagegen aufzubegehren.

Einer der Gründe dafür ist allerdings auch, daß Eltern, die es sich leisten können, ebenso, wie in Italien, Österreich, Frankreich, Polen, Belgien, Kanada und den meisten andern Staaten dieser Welt, ihre Kinder auch zuhause unterrichten können (in USA zwischen 2% und 4% der 'Schüler(innen')) und daß es zudem einfach(er als in Deutschland) ist, eine freiheitliche Privatschule dort zu betreiben, vgl. die weltweit einmalige Sudbury-Bewegung.

Oder anders herum: so, wie in China und der jungen Sowjetunion das Problem des Analphabetismus praktisch 'über Nacht' verschwand, das Problem der 'functional illiteracy' wäre auch binnen eines Jahrzehnts unter den betroffenen Erwachsenen und bei Schulanfängern von Anfang an zu lösen, würden die geeigneten Methoden angewendet. Fehlender politischer Wille (oder entgegenstehende politische Absicht?) sowie Lethargie der Bevölkerung wirken hier zusammen. Und wollte man eine Verschwörungstheorie sehen, könnte man sich fragen, warum ausgerechnet in USA die reichsten Familien nicht nur Stiftungen gegründet haben, sondern diese auch noch ausgerechnet einen Großteil ihrer Erträge im 'Bildungs'-Wesen investieren?! (Andrew Carnegie nehme ich mal aus - der hat dafür gesorgt, daß es in jedem Kaff eine gut ausgestattete 'public library' gibt - sonst wäre der kulturelle Kahlschlag in USA noch viel größer und umfassender).

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